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Es war einmal ein malerischer Stadtteil im Norden Berlins, namens Niederschönhausen. In dem kleinen Gemeindebüro, das neben der ehrwürdigen Friedenskirche stand, hing ein kostbares goldgerahmtes Gemälde, das die ehemalige Kirche von Niederschönhausen zeigte. Es war ein Meisterwerk, das die Schönheit und den Charme des Gebäudes und der Umgebung zeigte und von den Gemeindemitgliedern seit vielen Generationen bewundert wurde.
Eines Morgens, als Pfarrer Brückner das Gemeindebüro betrat, stellte er entsetzt fest, dass er auf eine leere Wand starrte. Das Bild war verschwunden. Pfarrer Bertram, der in diesem Moment ebenfalls das Büro betrat, meinte empört: “So kann es nicht weitergehen! In den letzten Wochen wurden bereits zwei Mal unsere Schaukästen besprayt und einmal das Blumenbeet vor dem Gemeindehaus verwüstet. Da hat es jemand auf unsere Gemeinde abgesehen.“ Pfarrer Brückner nickte betrübt: „Wir sollten herausfinden, was da vor sich geht. Ich rufe sofort unsere Kollegen zusammen.
Kurze Zeit später standen die beiden Pfarrer, die Gemeindepädagogin Vivian Osemwegie, der Jungenmitarbeiter Jan-Vincent Barentin, die Kantorin Josefine Horn, der Jugendmitarbeiter Marcel Gundermann, sowie der Hausmeister Henryk Kowitzke und die Sekretärin Susanne Schmidt dicht gedrängt im Gemeindebüro, um den merkwürdigen Ereignissen auf die Spur zu kommen. „Lasst uns zuerst im Gemeindebüro nach Hinweisen suchen“, schlug Vivian vor. Sie begann, den Raum gründlich auf allen vieren zu durchsuchen und jedes Staubkorn ins Auge zu nehmen. Jan-Vincent bemerkte indes bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster, dass eben dieses nur angelehnt war. „Vielleicht hat jemand das Gemälde gestohlen und ist durch das Fenster geflohen“, murmelte er nachdenklich. Marcel, der immer einen pragmatischen Ansatz hatte, schlug vor: „Wir sollten die Niederschönhausenerinnen befragen. Vielleicht hat jemand etwas Verdächtiges gesehen oder gehört.“ Herr Kowitzke, der Hausmeister, nickte zustimmend. „Wir beide können die Umgebung mit meinen Hunden ablaufen und nach Spuren suchen. Zwei Hundenasen riechen viel mehr, als wir mit unseren Augen sehen können“. Noch während er das sagte und ohne, dass Marcel etwas hätte erwidern können, schob ihn Herr Kowitzke aus der Tür und die beiden machten sich an die Arbeit. Die Gemeindesekretärin Frau Schmidt, die für ihre Organisationstalente bekannt war, machte sich derweil daran, eine Liste aller Menschen zu erstellen, die in den letzten Tagen das Gemeindebüro besucht hatten, denn schließlich waren auch kurze Besucherinnen potenzielle Zeuginnen. Während Frau Schmidt Person um Person zu Papier brachte, machte sich Josefine daran die Kontakte anzurufen und kurz zu befragen. Leise verließen die übrigen Mitarbeiterinnen das Gemeindehaus, um in zweier Teams Passant*innen rund um die Kirche zu befragen. Auf einer kleinen Mauer, welche gerade hoch genug war, um eine Grundstücksgrenze zu markieren, entdeckten Vivian und Pfr. Brückner einen älteren, bärtigen Mann sitzen. Er schien die Umgebung genau im Blick zu behalten und die Sonne, welche vom wolkenlosen blauen Himmel strahlte, zu genießen.
„Entschuldigen Sie“, begann Vivian, „haben Sie in letzter Zeit etwas Verdächtiges rund um die Friedenskirche bemerkt? Der alte Mann zog einmal an seiner Zigarette, um gleich darauf heftig zu husten: „Nun, ich habe gestern einen Fremden gesehen, (er hustete) der sich lange vor der Kirche aufgehalten hat. Er hatte eine große Tasche bei sich. Hust hust Es sah so aus, als ob er etwas verstecken wollte“, erzählte er.
„Das könnte ein Hinweis sein! Wissen Sie, wo der Fremde dann hingegangen ist?“ fragte Pfr. Brückner aufgeregt. „Ich habe ihn in Richtung des Schlossparks gehen sehen“, antwortete der Herr ohne nachdenken zu müssen.
In der Zwischenzeit endeckten Jan-Vincent und Pfr. Bertram schon aus der Ferne eine Gruppe Jugendlicher, welche sich laut vor dem Max-Delbrück-Gymnasium unterhielten. „Das sind doch unsere Konfis, oder?“ bemerkte Jan-Vincent erfreut, „Ich Grüße euch! Habt ihr einen Moment Zeit uns zu helfen?“. Die Konfirmandinnen nickten etwas müde vom Schultag, aber gespannt auf das Anliegen der Männer. Pfr. Bertram erzählte ihnen von den merkwürdigen und erschreckenden Vorkommnissen der letzten Zeit, aber die Konfis konnten nur mit Sicherheit sagen, dass es keiner von Ihnen gewesen war und sie es auch nicht ihren Klassenkameradinnen zutrauen würden. Etwas enttäuscht verabschiedeten sich Pfarrer und Jungenmitarbeiter und gingen ihrer Wege.
Währenddessen hatten Marcel und Herr Kowitzke einen Großteil des Gemeindegelände abgelaufen.
„Bestimmt werden meine Hunde gleich die Witterung aufnehmen“, meinte Herr Kowitzke immer noch optimistisch. Die Hunde schnüffelten eifrig umher, und plötzlich bellte der größere der Hunde aufgeregt. Herr Kowitzke folgte der Fellnase und entdeckte eine frischen Abdruck im Gras. „Hier! Sieh mal, das könnte eine Spur sein!“
Die beiden Männer folgten den Hunden bis in den stark besuchten Schlosspark. „Oje, seufzte Marcel und schwenkte den Blick zwischen fußballspielenden Kindern, spazierenden Senior*innen und picknickenden Pärchen, „Bis wir den Park gänzlich unter die Lupe genommen haben, können ja Tage vergehen“. Doch die Hunde schnüffelten weiter und führten die beiden Kollegen zielstrebig zu einem dichtbewachsenen Gebüsch, welches bei genauerem Hinsehen verdächtig funkelte. „Das muss es sein!“ rief Herr Kowitzke voller Stolz. Gemeinsam schoben sie vorsichtig die Äste der umliegenden Gebüsche beiseite und fanden schließlich das Gemälde mit seinem golden glänzenden Rahmen. Doch als sie es herauszogen, bemerkten sie, dass die Zweige das Bild beschädigt hatten und Nässe und Erde ihr Übriges getan hatten.
„Wir müssen herausfinden, wer das gewesen ist und warum“, sagte Hr. Kowitzke ernst zu Marcel gewandt. Die beiden beschlossen, das Gemälde vorsichtig zu bergen und zurück zum Gemeindehaus zu gehen, um die anderen zu informieren.
„Da seid ihr ja endlich“, begrüßte Frau Schmidt die beiden Männer und ihre vierbeinigen Gefährten. Schon längst hatten sich alle anderen Kolleg*innen in dem Gebäude neben der Kirche eingefunden und einander über den aktuellen Stand ihrer Ermittlung informiert. „Auch wir freuen uns euch zu sehen“, antwortete Marcel frech. „Und wir haben da etwas gefunden, was euch bestimmt auch begeistern wird“, fügte Hr. Kowitzke triumphierend hinzu und legte das Fundstück vorsichtig auf dem Tisch vor sich ab.
„Das Gemälde“ schallte es von allen Seiten begeistert, doch die Freude hielt nur kurz an, denn jeder konnte sehen, dass dem Kunstwerk übel mitgespielt wurde. „Ist euch vorhin auch schon dieser Zettel aufgefallen?“, fragte Vivian und deutete auf eine kleinen, zerknitterten Papierstreifen, welcher in dem eingerissenen Holzrahmen des Bildes klemmte. Blitzschnell schnappte sich Jan-Vincent besagten Zettel, entfaltete ihn und starte wortlos auf das Stück Papier. „Jetzt lies schon endlich vor“, meinte Vivian ungeduldig und versuchte, ihrem Kollegen nicht vor Ungeduld den Zettel zu entreißen.
„DIE GLOCKE MUSS VERSTUMMEN, SONST RUHE ICH NICHT!!!“, stand in Schönschrift und in Großbuchstaben auf dem Papier.
„Ääääh, bezieht sich das nun auf den Vandalismus oder kann die Person einfach nicht schlafen?“, fragte Pfr. Bertram und kratzte sich am Kopf. Indes griff Frau Schmidt kreideweiß zum Gemeindetelefon und suchte auf dem Anrufbeantworter eine ganz bestimmte Aufnahme heraus:
„Sie haben eine neue Nachricht. Sonntag, 23:30 Uhr“. Auf die Anrufbeantworterdurchsage folgte ein kurzes Rauschen, welches durch lautes Husten und Keuchen beendet wurde. „Ist das die Kirchengemeinde Niederschönhausen – Nordend? Hust Ich sage Hust Hust Ihnen mal was, Ihre Glocke gehören abgeschafft. Hust Wie soll ein anständiger Bürger Hust Hust Schnaub denn da zur Ruhe kommen??? Besser die Glocke verstummt zeitnah! Hust“
„Das kann doch kein Zufall sein“, kombinierte Pfr. Brückner gekonnt, „der Wortlaut auf dem Zettel ist identisch mit der Aussage des Anrufers: „Die Glocke soll verstummen“.
„Und das war nicht die einzige hinterlassene Nachricht der letzten Wochen, erwiderte Frau Schmidt,“Bisher habe ich die Beschwerden nicht so ernst genommen. Schließlich steht die Friedenskirche seit über 150 Jahren auf demselben Fleck, da kann man sich ja überlegen, ob man in die direkte Umgebung einer Kirche ziehen möchte oder nicht.“
„Ganz genau, zumal die Glocke mit ihrem Schlagen den Menschen nicht nur die Uhrzeit verrät, sondern auch an die Gegenwart Gottes erinnert“, fügte Marcel wissend hinzu.
Josefine blickte nachdenklich auf das Telefon und schien der Unterhaltung nicht mehr zu folgen.
„Josefine, bist du noch bei uns?“, fragte Vivian und stupste die Kantorin leicht in die Seite. „Habt ihr auch das Flüstern im Hintergrund gehört? Ich habe irgendwas verstanden, das wie Merlin oder Erwin oder Schwerin klang.
Sofort beugten sich alle Anwesenden über das Telefon, gespannt darauf ebenfalls die Stimme im Hintergrund zu identifizieren. Frau Schmidt tippte einige Tasten auf dem Bürotelefon und der Raum wurden erneut erfüllt von der Anrufer Information, einer kurzen Stille, einem Husten und Keuchen, der unfreundlichen und aggressiven Stimme eines Mannes und da… einem leisen Flüstern. Kaum war die Durchsage beendet gab es kein Halten mehr.
„Merlin“ ich bin mir ganz sicher „Merlin“ gehört zu haben, verkündete Jan- Vincent siegessicher. „So ein Quatsch „Mervin“ wurde im Hintergrund geflüstert“ entgegnete Herr Kowitzke. „Mervin? Du bist mir auch so ein Mervin?, polterte Vivian dazwischen, „es wurde ganz eindeutig „Schwerin“ gesagt“.
Frau Schmidt massierte genervt ihre Schläfen, diese Kindsköpfe. Josefine musste die Gedanken ihrer Leidensgenossin erraten haben, denn sie erhob die Stimme und rief: „Entschuldigung, glaubt hier irgendjemand, dass uns diese Diskussion weiterbringt? Lasst uns die verschiedenen Wörter aufschreiben, vielleicht nützen sie uns später noch.
In das betretene Schweigen hinein, klopfte es an die grüne Tür des Gemeindebüros. „Herein“ riefen Sekretärin, Kantorin, Hausmeister, Jugend- und Jungenmitarbeiter, die beiden Pfarrer und die Gemeindepädagogin. Die Tür öffnete sich zaghaft und herein kam eine junge, schlanke Frau, welche vielleicht 40 Jahre alt sein mochte. Sie schaute verstört in die Runde und die Runde schaute erwartungsvoll auf sie.
Pfr. Bertram fing sich zuerst wieder: „Schönen guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“.
„Guten Tag. Ich bin Frau Marlene Maier. Ich würde gerne kurz mit einem Pfarrer sprechen. Ich hoffe, ich erscheine nicht ungelegen“, antworte sie. Pfr. Brückner ergriff sogleich seinen Schlüssel und führte Frau Maier in das 1. Stockwerk, in einen kleinen gemütlichen Besprechungsraum, mit weißen Gardienen und einem roten Teppich. Dort erzählte Frau Maier dann von ihren Eltern Ingrid und Erwin Maier. „Wissen Sie. Meine Eltern wohnen schon viele Jahre in Niederschönhausen und haben mich auch in dieser Gemeinde taufen lassen. Sie sind selber keine Christen, aber wünschten sich für ihr einziges Kind einen Segen, der sie durch das Leben begleitet. Jetzt ist meine Mutter schwer erkrankt und mein Vater erscheint mir mit der Pflege und Betreuung etwas überfordert zu sein. Er raucht in letzter Zeit wie ein Schornstein. Natürlich kümmere ich mich wann immer ich kann um Vater und Mutter, jedoch habe ich selber drei wundervolle Kinder, die versorgt werden wollen. Könnten Sie evtl. einmal meine Eltern besuchen und ihnen beistehen. Sie müssen auch nur die Straßenseite wechseln, sie wohnen direkt über dem Eiscafé Kubitza“.
Kurze Zeit später verließ Marlene Maier das Gemeindegelände und Pfarrer Brückner informierte seine Kolleg*innen in kurzen Sätzen: „Ich besuche heute noch Erwin und Ingrid Maier. Frau Maier ist anscheinend erkrankt und ihre Tochter bittet darum, ihre Eltern seelsorgerlich zu begleiten“.
„Erwin“, da haben wir es wieder“, erinnerte Susanne, „Was wäre, wenn das Flüstern aus dem Hintergrund gar kein Flüstern war, sondern viel mehr von einem kranken, vielleicht heiseren Menschen stammt?“. Vivian riss es vor lauter Tatendrang sofort vom Stuhl:
„Das ist ein genialer Einfall. Pfr. Brückner, du musst unbedingt auf Auffälligkeiten bei Familie Maier achten.
Eine Ampelphase später klingelte Pfarrer Brückner bei „Maier“ und stieg das Treppenhaus bis in den zweiten Stock empor. Dort erwartete ihn bereits ein älterer, bärtiger Herr. Dieser stützte sich mit der rechten Hand auf eine Krücke und hielt mit der linken Hand eine brennende Zigarette in der Hand.
„Herr Maier? Hatten wir nicht schon einmal das Vergnügen?“, fragte Pfr. Brückner erstaunt.
„Natürlich. Hust. Sie haben mich heute angequatscht, als ich kurz draußen die Sonne genießen wollte“, antwortete Herr Maier gereizt, „was wollen Sie denn schon wieder von mir“.
„Ich bin Pfarrer in der Kirchengemeinde Niederschönhausen-Nordend. Ihre Tochter bat mich, einmal bei Ihnen vorbei zu sehen und Ihnen ein Gespräch anzubieten.
„Sie sind die Letzten, mit denen ich reden wollen würde. Hust Durch Ihren Verbrecherverein geht es meiner Ingrid doch erst so schlecht. Hust Hust“
Erstaunt guckte Pfr. Brückner sein Gegenüber an, „Herr Maier, das müssen Sie mir bitte näher erklären, was hat Ihnen unsere Gemeinde denn getan?“.
Erwin Maier war mittlerweile erschreckend rot im Gesicht geworden, und er schnaufte und hustete noch mehr als üblich: „Meine Ingrid ist schwer krank Hust Hust Hust und die ollen Kirchenglocken rauben ihr den Schlaf. Hust Aber ohne Schlaf kann meine Frau doch nicht gesund werden, nein, nein, nein.“ Mittlerweile schrie der ältere Mann beinahe das ganze Treppenhaus zusammen und Pfr. Brückner war bemüht, den Mann wieder zur Ruhe zu bringen.
„Herr Maier, bitte beruhigen Sie sich. Ich verstehe nun Ihr Problem. Erlauben Sie mir nur noch eine Frage. Haben Sie nur in der Gemeinde angerufen, oder stecken Sie auch hinter dem Vandalismus?“.
Wenn Pfr. Brückner zuvor gedacht hatte, dass sein Gegenüber rot gewesen wäre, wurde er nun eines Besseren belehrt. Herr Maier schnappte fortwehrend nach Luft und stieß empört „Vandalismus???“ aus. Vielleicht zum Glück des Pfarrers rief in diesem Moment eine zarte dünne Stimme aus dem Schlafzimmer: „Erwin“. Erwin Maier sammelte sich kurz und humpelte dann langsam in den dritten Raum, welcher von dem langen dunklen Flur abging und verschwand. Die Wohnungstür knallte ins Schloss und etwas verloren stand Pfarrer Brückner im Flur des Hauses.
Vermutlich aus Hilflosigkeit griff er zu seinem Telefon und wählte die Nummer des Büros. „Kirchengemeinde Niederschönhausen-Nordend, Susanne Schmidt, Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen“, meldete sich eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich bin es“, antwortete Pfr. Brückner etwas mürrisch und etwas zu kurz angebunden.
Sofort drückte die Gemeindesekretärin auf die Lautsprechertaste und bedeutete den übrigen Kolleg*innen zuzuhören.
„Ist Vivian da“, fragte Pfr. Brückner, doch ohne auf eine Antwort zu warten erzählte er von den Vorkommnissen und davon, dass er und Vivian Herr Maier heute schon einmal kennen gelernt hatten. „Dann bist du dir mittlerweile sicher, dass Hr. Maier hinter den Anrufen steckt?“, fragte Jan-
Vincent interessiert. „Hinter den Anrufen wohl schon, aber als ich ihn auf den Vandalismus angesprochen habe, ist er knallrot vor Zorn geworden“, entgegnete Pfr. Brückner.
„Soll heißen die Anrufe, der Diebstahl und die Zerstörung wurden von unterschiedlichen Täterinnen durchgeführt?“, fragte Herr Kowitzke. Auf diese Frage wusste keiner eine wirkliche Antwort und so kehrte mal wieder Schweigen auf beiden Seiten des Telefons ein, bis sich Josefine ein Herz fasste und sprach: „ Ich gehe jetzt rüber zu Pfr. Brückner, wer begleitet mich?“ „Ich“, riefen nacheinander alle Mitarbeiterinnen. Frau Schmidt schüttelte den Kopf, „so geht das nicht. Wir können nicht alle die Wohnung von Familie Maier stürmen, außerdem sollte eine Person im Büro ansprechbar bleiben und sich mindestens zwei Kolleg*innen auf eine Nachtschicht im Kirchgarten einstellen“ und wo Frau Schmidt schonmal den Ton angab beschloss sie, dass Pfr. Bertram und sie im Büro bleiben würden und Josefine und Marcel zu Pfr. Brückner gehen sollten. Die übrigen Hauptamtlichen begaben sich nach Hause, um sich auf die bevorstehende Nachtschicht vorzubereiten.
Im Treppenhaus der Hausnummer 22 war es dunkel, kühl und roch nach Desinfektionsmittel. Der letzte Umstand lag wohl an mehreren Arztpraxen, welche im Haus ansässig waren. Marcel, Josefine und Pfr. Brückner saßen aufgereiht, wie die Orgelpfeifen auf den Treppenstufen und starrten auf die verschlossene Wohnungstür von Familie Maier. In der letzten Stunde hatte sich nix getan, wenn man von Patientinnen und Anwohnerinnen absah, welche hinein oder hinaus gingen. Mit einem lauten Seufzen erhob sich Pfr. Brückner von seinem Platz und forderte seine Begleiter*innen auf, den Rückzug anzutreten. Im Erdgeschoss angekommen, öffnete sich die Tür und ein ca. 7 jähriger Junge rannte der kleinen Gruppe entgegen. Ihm folgten mutmaßlich seine älteren Geschwister, welche bereits zwischen 12 und 15 Jahren sein mussten.
Irgendetwas hatte Josefine dazu bewogen, spontan inne zu halten und den Minderjährigen hinterher zu blicken. Ihre Hände bedeuteten den beiden Männer ihr leise und mit Abstand zu folgen.
Die Kantorin, der Pfarrer und der Jugendmitarbeiter beobachteten, wie die Geschwister im 2. Stock, die Tür von Familie Maier aufschlossen und ihre Taschen im Flur fallen ließen.
Der Kleine lief aufgeregt den Gang hinunter und rief, „Oma, Opa wir sind da! Malte und Merle gehen gleich mit mir Eis essen. Sollen wir euch Kuchen mitbringen?“. Er plapperte noch weiter wie ein Wasserfall, aber Marcel hörte schon gar nicht mehr hin. Stattdessen bemerkt er, dass noch immer die Tür der Wohnung einen Spalt weit offen stand. Er schlich zur Wohnung und erkannte, dass einer der Rucksäcke die Tür blockierte. Er musste dieser Merle gehören, denn aus dem geöffneten Hauptfach ragte ein Hausaufgabenheft heraus, auf welchem in Schönschrift ihr Name geschrieben stand. Kurzentschlossen griff Marcel zu seinem Telefon und fotografierte besagtes Heft, dann liefen er, Josefine und Pfr. Brückner hinüber in das vertraute Gemeindebüro.
„Seht euch diese Handschrift an“, meinte Marcel und deutete auf sein Handy, „Es ist doch die selbe, wie auf dem zerknitterten Zettel, oder?“. Fachmännisch nahm ihm Frau Schmidt Handy und Zettel aus der Hand und überprüfte die Theorie. Sie murmelte: „Ein sehr charakteristisches M… und hier, das leicht geöffnete E…“.
Die Anwesenden waren sich einig, Merle Maier hatte den Zettel vom Rahmen des Bildes geschrieben, also war Merle auch ihre neue Hauptverdächtige.
In der folgenden Nacht versteckten sich Jan-Vincent, Herr Kowitzke und Vivian auf dem Gelände. Sie alle waren über die neuen Erkenntnisse informiert und waren bereit, Merle auf frischer Tat zu überführen. Mit einem Fernglas und ihrem Handy ausgestattet, erklomm Vivian die Stufen des Kirchturms. Von hier oben versprach sie sich eine gute Aussicht und hoffte, ihre Kollegen frühzeitig über Merles Erscheinen informieren zu können. Herr Kowitzke hatte sich neben dem Gemeindehaus, hinter der großen gelben Mülltonne versteckt und Jan guckte durch einen Spalt der offenen Gemeindesaaltür direkt auf das Gemeindebüro.
Zwischen 21 und 23 Uhr passierten verschiedenste Menschen das Gemeindegelände. Eine ältere Frau mit Hund, 5 junge Erwachsene mit Bierflaschen in der Hand, ein junger Vater mit Kinderwagen, eine Mieterin, welche unter dem Dach des Gemeindehauses wohnte und, und, und. Als erstes hatte Herr Kowitzke die Nase voll, dies war verständlich, schließlich hatte er sich auch den unbequemsten Platz ausgesucht. Wie ein kleiner Junge begann er die telefonische Standleitung der drei für sein Gejammer zu nutzen, „Wann ist sie endlich da?“ „Ich habe Hunger“. „Ich muss mal.“
„Mir tun die Beine weh“. Jan-Vincent hatte irgendwann den Ton seines Handy ausgeschaltet und guckte genervt aus dem Fenster. Da erblickte er im schein ihrer Taschenlampe zwei schwarzgekleidete Gestalten, welche sich mit einem Brecheisen an der Sakristeitür der Kirche zu schaffen machten.
„Das kann doch nicht wahr sein“ rief Jan ungläubig und informierte Vivian und Herrn Kowitzke über seine Entdeckung. Sofort machte sich Vivian daran, den Kirchturm hinabzusteigen, denn wenn sie schnell genug sein würde, könnte sie vielleicht die beiden Verbrecherinnen mit ihrer Handykamera aufnehmen und überführen. Mit einem lauten „Rums“ öffnete sich die Tür der Sakristei und die beiden EinbrecherInnen betraten die Kirche. Die Stimme eines Mädchens flüsterte leise und gehässig „Nun mach schon Malte. Hol die Sprayflaschen heraus und dann gestalten wir den Altarraum um“. Der Junge wühlte in seinem Rucksack und zog brummend zwei Flaschen mit roter Farbe heraus, „Schon dabei, Merle. Wir teilen uns am besten auf. Du schreibst: DIE GLOCKE MUSS VERSTUMMEN und ich werde schreiben SONST RUHE ICH NICHT!!!“.
Beide nickten einander zu und machten sich auf den Weg zum Altar.
Die Gemeindepädagogin, der Hausmeister und der Jungenmitarbeiter hatten genug gehört und gesehen. Jan betätigte den Lichtschalter, während Herr Kowitzke brüllend auf die Jugendlichen zu lief. Malte, welcher der größere der beiden Geschwister war, hatte vor schreck seine Spraydose fallen lassen und Merle schrie wie am Spieß. Mit ihrer Handykamera in der Hand trat Vivian auf den Jungen und das Mädchen zu, „Merle und Malte Maier, ihr seid überführt. Ich werde jetzt die Polizei rufen“.
Zwei braune Augenpaare guckten Vivian unsicher und verzweifelt an. Merle konnte sich zuerst zu einigen Worten durchringen und bettelte mit heiserer Stimme: „Bitte nicht. Wir haben einen großen Fehler gemacht. Aber bitte tut das nicht unserer Mutter und unseren Großeltern an“.
Herr Kowitzke konnte es nicht fassen: „Einen großen Fehler??? Ihr habt die Sakristei- und Gemeindebürotür aufgebrochen, ein wertvolles Bild gestohlen und zerstört und mutmaßlich steckt ihr auch hinter der Verwüstung des Blumenbeetes und habt die Schaukästen unlesbar gemacht. Euch sollte man…“
„… bitten uns zu erklären, was das alles sollte“, fiel Jan-Vincent ruhig und bestimmt in Herrn Kowitzkes Satz. Erstaunt blickten Merle, Malte und Herrn Kowitzke zu Jan- Vincent. Dieser bedeutete allen, sich auf die Steinstufen des Altarraums zu setzen und die beiden Geschwister begannen zu erzählen: „Unsere Großeltern Erwin und Ingrid Maier wohnen seit vielen Jahren gegenüber der Kirche. Vor zwei oder drei Jahren ist unsere Oma erkrankt und seitdem kümmert sich unsere Mutter Marlene in jeder freien Minute um ihre Eltern, aber sie muss ja auch noch arbeiten und sich um uns, ihre drei Kinder kümmern. Eines Nachts übernachteten wir alle bei unseren Großeltern. Oma konnte nicht schlafen. Sie hatte Schmerzen, und immer wenn sie endlich eingeschlafen war, läutete wieder eine der Glocken und Oma erwachte und wimmerte wieder vor Schmerzen. Das war wirklich schlimm. Wir hörten mit, wie Opa sich das Telefon nahm und in der Friedenskirche anrief. Wir wussten, dass das nicht das erste Mal war und die Gemeinde nicht auf seine Bitten reagierte. Da wollten wir euch auf anderem Wege überzeugen“.
Kopfschüttelnd hatten die drei Erwachsenen zugehört. Nachdem der Bericht der Kinder fertig war, erhob sich Vivian und sprach: „Ihr geht jetzt nach Hause und legt euch schlafen. Morgen besuchen eure Mutter und eure Großeltern uns im Gemeindehaus und wir suchen gemeinsam nach einer Lösung“. Natürlich hatten Marlene und Malte riesige Angst vor dem nächsten Tag, aber immerhin hatten die Gemeindemitarbeiter*innen nicht die Polizei gerufen.
Am Dienstagnachmittag, pünktlich zur Büroöffnungszeit betrat die ganze Familie Maier das Gemeindehaus der Kirchengemeinde Niederschönhausen-Nordend. Die drei Kinder Malte, Merle und Michel hielten einen bunten Strauß Blumen, einen selbstgebackenen Kuchen und ein Karte in den Händen. Und selbst Oma Ingrid hatte sich in ihrem Rollstuhl mitnehmen lassen. Der sonst so mürrische Erwin Maier, schaute in die warmen, aber ernsten Augen seiner Frau. Nach 50 Jahren Ehe benötigte das Ehepaar meistens keine Worte mehr und Erwin wusste was zu tun war. Langsam löste
er sich aus der Menge und reichte Pfr. Bertram die Hand, „Meine Enkelkinder haben mir berichtet, was sie verbrochen haben. Ich bin dabei zu dem Schluss gekommen, dass ich ihnen nicht immer ein gutes Vorbild gewesen bin. Aus diesem Grund bitte ich um Entschuldigung für meinen anonymen Telefonterror“. Pfarrer Bertram nickte gütig und bat die ganze Familie in den angrenzenden Gemeindesaal, denn auch die übrigen Mitarbeiter*innen wollten an dem Gespräch teilnehmen undbrauchten ihren Platz.
Während Jan-Vincent hoch in die Küche lief um Teller und Kuchengabeln zu besorgen, erhob Josefine das Wort und berichtete noch einmal von ihrer gemeinsamen Suche, ihren Beobachtungen und wie sie letzten Endes als Team den Fall, um das verschwundene Gemälde lösen konnten. Die Mitarbeiterinnen spürten sowas wie Stolz in ihrer Brust. Nicht nur, dass sie die Jugendlichen überführt hatten und damit endlich der Zerstörung, Angst und ihren Sorgen ein Ende bereitet hatten, noch viel besser war, sie hatten trotz aller Unterschiede zusammen gearbeitet und das Ziel nicht aus den Augen verloren. Nun wendete sich Frau Schmidt an Familie Maier: “Schön das ihr hier seid. In den letzten Tagen haben uns Teile eurer Familie ordentlich in Atem gehalten. Nun wollen wir gerne mit euch klären, wie der entstandene Schaden behoben werden kann und wie wir dafür sorgen können, dass es Ihnen, Ingrid bald wieder besser geht“. Alle Anwesenden nickten stumm und gewiss war nicht nur eine Person froh, den Mund voller Kuchen zuhaben. Wie Pfarrer Bertram beobachten konnte, beherrschte den warmen aber strengen Blick nicht nur Oma Ingrid, sondern auch ihre Tochter Marlene. Auffordernd sah die Mutter ihre beiden Großen an. Wie schon Opa Erwin fassten sich die beiden Geschwister ein Herz und entschuldigten sich für ihr Handeln. „Wir haben heute Mittag als Familie über unsere Taten gesprochen und müssen einsehen, dass Gewalt und Zerstörung keine Lösung für Probleme sein können“, sagte Merle mit gesenkten Blick. „Unser Großvater wird die Schäden bezahlen und wir werden uns Jobs neben der Schule suchen, um die Summe stückweise abzubezahlen“, ergänzte Malte die Worte seiner Schwester. Die Kirchenmitarbeiterinnen sahen einander fragend an. Sollten sie die Entschuldigung und das Angebot annehmen? Und würden die beiden Jugendlichen etwas daraus lernen?
Nachdenklich sagte Pfr. Brückner: „Wir sind… einverstanden.“
Plötzlich hellte sich Herr Kowitzkes Gesicht sichtlich auf und er fügte schmunzelnd hinzu: „Aber die Schaukästen werdet ihr noch heute schrubben. Dazu hatte ich in der ganzen Aufregung noch gar keine Zeit und wie sonst sollen die Menschen von den Angeboten der Gemeinde erfahren“. Bestimmt hätten Merle und Malte gerne protestiert, aber sie wussten, dass sie im Unrecht waren.
Vivian kniete sich neben Oma Ingrids Rollstuhl und fragte: Was können wir für Sie tun? Gerne unterstützen wir Sie im Rahmen unserer Möglichkeiten.
Oma Ingrid hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch kein Wort gesagt. Jetzt lächelte sie und antwortete mit ihrer leisen und heiseren Stimme: „Wie lieb, dass du fragst. Ehrlich gesagt habe ich gar kein Problem mit den Glocken der Kirche. Ganz im Gegenteil, auch wenn ich nicht an Gott glauben kann habe ich bei ihrem Klang immer das Gefühl nicht alleine zu sein“. Erstaunt blickte Vivian von Oma Ingrid, zu Opa Erwin und dann von ihren Kolleg*innen zu Malte und Merle. „Entschuldigen Sie bitte die Frage, aber wie kam es dann zu diesem ganzen Ärger?“, fragte Marcel. Wieder einmal trafen sich Erwins und Ingrids Augen und Erwin setzte zu einer Erklärung an: „Ich glaube, ich habe mich etwas in meine Wut und meine Angst hineingesteigert. Meine Ingrid ist so eine liebvolle und fröhliche Frau. Sie hat es nicht verdient krank zu sein. Die bimmelnden Dinger kamen mir als Schuldige gerade recht“.
Marcel sprach aus, was in diesem Moment alle Mitarbeitende dachten: „Vielleicht dürfen wir eure Familie begleiten?! Wir haben so viele tolle Angebote und lassen keinen alleine“.
„Malte? Wie wäre es mit der KonfiZeit. Man ist nicht verpflichtet sich am Ende auch konfirmieren zu lassen, aber man kann sich innerhalb eines Jahres mit sich und Gott auseinandersetzen“, erklärte Pfr. Brückner. Jan-Vincent fügte hinzu: „Und du Merle… mit 12 Jahren bist du im perfekten Alter für das Café12 und für das Ideenreich. Beide Gruppen finden immer abwechselnd am Donnerstag statt“.
„Und für den kleinen Michel haben wir die größte Auswahl“, berichtete Vivian, „ Es gibt einen Kinderchor, die Christies und die Jungengruppe“. Der siebenjährige schaute empört in die Runde und erwiederte: „Ich bin nicht klein, aber alle Gruppen kennenlernen möchte ich trotzdem“. Da mussten alle herzhaft lachen und Mutter Marlene nahm ihren großen Jungen in die Arme.
„Übrigens haben wir auch für Erwachsene und Senioren verschiedene Angebote“, ergänzte Pfr. Bertram, „und darüber hinaus biete ich Ihnen natürlich gerne regelmäßige Seelsorgegespräche an“. Familie Maier war still geworden. Trotz des ernsten Hintergrundes hatte sie alle seit langem nicht mehr einen so heiteren Nachmittag in Gemeinschaft und mit offenen Gesprächen verbracht. Oma Ingrid reichte nacheinander jedem und jeder Mitarbeiter*in die Hand und bedankte sich: „Danke, dass ihr meine Familie wieder fröhlich gemacht habt“. Erwin ergriff Ingrids Rollstuhl und rollte aus dem Gemeindesaal. Marlene, Malte, Merle und Michel wollten sich den beiden anschließen, doch da erklang ein lautes und mehrstimmiges „Halt“ durch den Raum und Merle und Malte wurde klar, dass noch ein langer und anstrengender Abend vor ihnen lag.
Ende